Flüchtlinge als Repräsentanten des Fremden?

Mit der großen Zahl von Flüchtlingen, die in unserem Land Schutz suchen, gewinnt das Thema Fremdheit, das ja eigentlich kein grundsätzlich Neues ist, noch einmal zusätzlich an Bedeutung und Brisanz. Eigentlich ist die Begegnung mit dem Fremden angesichts globaler Wanderungs- und Vernetzungsprozesse, durch die vormals im außen Ver-ortetes bzw. Fremdes im Bereich des Eigenen auftaucht, Teil des alltäglichen Lebens geworden.

Doch auch wenn eigentlich klar ist, dass in multikulturell zusammengesetzten Gesellschaften die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem verschwimmt und die Definition von Fremdheit nicht mehr anhand vermeintlich „natürlicher“ oder „objektiver“ kultureller, religiöser oder ethnischer Differenzen gezogen werden kann, so verdient die Thematik der Fremdheit dennoch angesichts der anhaltenden Flüchtlingsbewegung und den damit verbundenen Debatten besondere Beachtung, da viele Menschen den Eindruck haben, dass mit den Flüchtlingen automatisch auch immer mehr Fremdes ins eigene Terrain kommt.

Hierbei stellt sich jedoch die zentrale Frage, warum wir wen als fremd empfinden und deklarieren.

Obwohl wir bekanntermaßen ein Einwanderungsland sind und wir hier bereits mit der dritten Generation von Einwanderern zusammenleben, formulieren viele angesichts der Zahl von Flüchtlingen zunehmend Sorgen und bezweifeln, dass „wir das schaffen“ können. Hierbei wird dieses „das“ zumeist nicht näher definiert und selbst wenn hiermit beispielsweise ausdrücklich die gelingende Integration von Flüchtlinge bezeichnet wird, verbinden hiermit unterschiedliche Akteure je verschiedene Vorstellungen darüber, was Integration überhaupt meint, was als gelungen verstanden werden kann, und wer hierfür was zu erbringen hat.

Unabhängig davon zeigt ein Blick auf die aktuellen Diskussionen, dass der anhaltende sogenannte „Zustrom“ von Flüchtlingen, die in großer Zahl nach Europa und insbesondere in ihr begehrtes Zielland Deutschland strömen, viele Menschen hierzulande mit Angst erfüllt: Angst vor diesen Menschen aus anderen, „fernen“ Kulturen mit anderer religiöser Zugehörigkeit und oftmals mit anderen als den hiesigen Vorstellungen, z.B. über die Rolle der Religion in der Gesellschaft, die Rolle der Frau und das Verhältnis der Geschlechter sowie über den Umgang mit „anderen“ sexuellen Orientierungen. Verständlich einerseits, insofern jede Gesellschaft trotz aller gelebten und bereichernden Diversität einen gewissen (Werte-) Konsens braucht, um agieren und handlungsfähig bleiben zu können. Es wird die Angst ausgedrückt, dass dieses Fremde unsere Gesellschaft überfordern könnte und langfristig verändern wird und vielfach schwingt die Angst vor der Reduzierung und dem Verlust eigener Ressourcen und der Verminderung eigener Chancen durch diesen „Zustrom“ an Fremden mit ihren Bedürfnissen, nicht nur nach Sicherheit, Unversehrtheit, Demokratie und Frieden, sondern auch nach Wohnraum, Versorgung und Zugang zum Arbeitsmarkt mit.

Doch diese Angst scheint mehr zu umfassen, als die Angst um sich verknappende Ressourcen, wie zum Beispiel bezahlbaren Wohnraum und Arbeitsplätze oder auch das Gefühl, angesichts der großen Zahl an Flüchtlingen von der eigenen Politik vernachlässigt zu werden, wie dies zum Beispiel eine Bürgerin gegenüber Bilkey Öney, der baden-württembergischen Landesministerin für Integration mit der Frage „Wir reden nur noch über Flüchtlinge, Frau Öney, wer kümmert sich denn eigentlich um mich?“ zum Ausdruck bringt.

Es schwingt die Angst vor dem Fremden, dem Unbekannten mit, dass in vielen Augen durch diese Flüchtlinge repräsentiert wird. Doch dieses Gefühl gilt es zu hinterfragen:
Wieso sind wir auf Reisen vom Reiz und der „Exotik“ des Fremden, des Unbekannten und Unvertrauten fasziniert, bewegen uns als Touristen „in der Fremde“ meist ohne Angst unter lauter „Fremden“, wollen davon neugierig mehr erfahren und kennenlernen, während uns genau dasselbe, zum Beispiel orientalische, Fremde mit Unbehagen, Angst oder gar Aggressionen erfüllt, sobald es in Form eines, beispielsweise syrischen, Flüchtlings europäischen Boden betritt? Wieso fühlen wir uns bedroht sobald etwas als „fremd“ Definiertes im Bereich des Heimischen, des Eigenen auftaucht, das sich nur bedingt vertraut und hiermit – im wahrsten Sinne des Wortes – zu eigen machen lässt.

Ein Grund hierfür könnte vor allem darin liegen, dass das Fremde uns auch mit uns selbst, mit der Begrenztheit unserer Weltsicht und mit den Auslassungen und Lücken unserer Realitätskonstruktionen und unser (gesellschaftlichen) Ordnung – die gerade auf Ausschlüssen basiert – konfrontiert, unsere Normalitätserwartungen durch ihr (wahrgenommenes) Anders-Sein irritiert und hierdurch letztlich unsere Identität infrage stellt. Letzteres ist vor allem dadurch begründet, dass mit dem Auftauchen des Fremden im Inneren des Eigenen bisherige klare Grenzziehungen verschwimmen und zudem deutlich wird, dass mit dem „Fremden“, auf den – hierauf weist die Psychoanalyse hin – die unerwünschten Anteile des Eigenen projiziert wurden, genaue diese wieder in den Bereich des Eigenen zurückkommen. Dies ist einer der Gründe für das Unbehagen, dass das Fremde im Eigenen vermeintlich auszulösen vermag, was jedoch mehr mit dem Eigenen zu tun hat, als mit dem Fremden „an sich“. Alois Hahn bringt dies auf den Punkt:

„Sage mir, wen oder was du für fremd hältst, und ich sage dir, wer du sein willst. In der Beschreibung von Personen oder Umständen als ‚fremd‘ enthüllen (oder verbergen) sich Selbstbeschreibungen. In der Ausgrenzung von Fremden und Fremdem wird also immer nur ein Merkmal oder ein Bündel von Eigentümlichkeiten herausgegriffen, von denen man sich expressis verhis distanziert. Man selbst aber ist diese Distanz.“

Das Fremde wird somit nicht „objektiv“ erfahren und wahrgenommen, sondern ist immer auch eine vom Unbewussten des Eigenen geprägte bzw. gefärbte Vorstellung. Das Fremde zu thematisieren bedeutet demzufolge immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Eigenen, da die Definition dessen, was als „fremd“ empfunden wird, vom Eigenen ausgeht bzw. stets unter Bezug auf das „Eigene“ erfolgt, mehr noch, die Definition des Anderen, des Fremden ist konstitutiv für die Bildung der Identität des Eigenen. Weiterhin zeigt sich, dass Fremdes immer erst durch die Nähe und durch die Beziehung zum Eigenen entsteht bzw. dass es einer Beziehung bedarf, um etwas bzw. jemanden als fremd zu empfinden. Hierauf weist zum Beispiel die Psychologin Birgit Rommelspacher mit der Aussage hin, dass der Fremde immer nah genug sein muss, um fremd sein zu können.

Ähnlich definiert auch der Soziologe Georg Simmel schon im Jahr 1908 den Fremden, als denjenigen der „heute kommt und morgen bleibt“ und betont die Bedeutung des gleichzeitigen Verhältnisses von Nähe und Entferntheit, das den Fremden auszeichnet. Er verdeutlicht dies anhand eines Vergleichs mit den Bewohnern des Sirius, die uns nicht im soziologischen Sinne fremd sind, da sie „jenseits von Fern und Nah“ stehen und in diesem Sinne – jedenfalls nicht konkret – für uns existieren. Ihm zufolge entsteht Fremdheit somit erst durch die Nähe und die Bleibeabsicht des Fremden, was gerade im Hinblick auf die aktuelle Flüchtlingsthematik ein beachtenswerter Hinweis ist.

Das bedeutet aber auch, dass Fremdheit immer – dies erklärt beispielsweise Bernhard Waldenfels – einen relationalen Charakter hat: Ein fremd „an sich“ existiert ebenso wenig wie es ein links „an sich“ geben kann: die Definition von Fremdheit steht bzw. entsteht immer in Beziehung zum Eigenen bzw. zu einer bestimmten Ordnung, wie beispielsweise Zygmunt Baumann zeigt.

In Bezug auf diese Beziehung sind vor allem die diesbezüglich gegebenen Machtverhältnisse zu reflektieren, denn die Zuschreibung von Fremdheit ist meist mit einem Machtgefälle verbunden:

„Denn als fremd, andersartig und minderwertig müssen sich nur diejenigen darstellen lassen, die ihrerseits nicht in der Lage sind, Stigmata abzuwehren und Regeln der Zugehörigkeit sowie Kriterien der Unterscheidung von Fremdem und Vertrautem in ihrem eigenen Interesse zu ändern, und die auch nicht in der Lage sind, soziale Beziehungen aufzukündigen, in denen sie als Fremde betrachtet und behandelt werden.“ (Albert Scherr)

Auch diese Perspektive der – oftmals als fremd deklarierten – Flüchtlinge gilt es in die Betrachtung mit einzubeziehen, denen hier zumeist die Rolle der/des Fremden zugewiesen wird, die sich hier oftmals fremd bzw. als Fremde in der Fremde fühlen und uns ebenfalls vielfach als fremd empfinden mögen.

Im Hinblick auf die eingangs erwähnte Sorge um eine mit der Zuwanderung einhergehende Ressourcenverknappung sei in diesem Zusammenhang unter Bezug auf Julia Reuter darauf hingewiesen, dass es übrigens nicht darauf ankommt, ob die Fremden wirklich ursächlich für Konflikte und Probleme, wie zum Beispiel Wohnungsnot, steigende Arbeitslosigkeit oder Kriminalität sind; entscheidend ist lediglich, ob sie aufgrund der Machtasymmetrie als Ursache dessen etikettiert werden können.

Fremdheit entsteht demnach letztlich immer dann, wenn eine – wie auch immer geartete – Differenz fixiert, negativ besetzt bzw. abgewertet wird und hiermit letztlich auch einer Aufwertung des Eigenen dient. Diesbezüglich gilt es, bei solchen Prozessen immer auch die Motive bzw. die Intentionen des Eigenen zu hinterfragen. Ziel sollte es hierbei sein, die Mechanismen, durch die der Andere zum Fremden wird, kritisch zu reflektieren, allerdings ohne sich hiermit den Fremden an-Eignen, sich seiner er-Mächtigen oder Fremdheit einzuebnen oder zum Verschwinden bringen zu wollen.

Es geht um ein Wissen um die Vielschichtigkeit dieses Phänomens der Fremdheit und ein Bewusstsein darüber, dass Fremdheit oftmals mehr mit dem Eigenen zu tun hat, als angenommen. Das Fremde weist auf das Eigene zurück: Auf die eigenen Grundannahmen, die eigenen (Normalitäts-)Erwartungen, die eigenen Projektionen, Ängste und Vorurteile sowie auf die eigenen (vermeintlich selbstverständlichen und allgemeingültigen) Werteordnungen.

Genau diesen Anteil des Eigenen bei der Konstruktion, Wahrnehmung und Zuschreibung von Fremdheit – sowie die Beziehung und Verflechtung von Eigenem und Fremden – gilt es zu reflektieren. Denn „die Fremdheit in uns selber aufzuspüren, das ist vielleicht die einzige Art, sie draußen nicht zu verfolgen“ (Julia Kristeva).

Dies ist eine der Voraussetzungen für die Akzeptanz „fremder“ Mit-Menschen, anderer Weltanschauungen und Perspektiven in der „eigenen“ Gesellschaft, für ein verändertes Verständnis und einen anderen Umgang mit Fremdheit bzw. Fremden und hiermit für ein friedliches gemeinsames Miteinander auch in Zukunft, zu der alle Beteiligten ihren Beitrag leisten müssen.
Mehr Informationen zum Thema Fremdheit finden sich in:
„Die Konstruktion von Fremdheit“ (Waxmann 2013):

Cover-Buch-klein
ISBN 978-3-8309-2851-5
Waxmann-Verlag
Preis 34,90 €